Ist ein Anlass für ästhetische Prozesse gegeben, entwickeln Kinder hierzu unterschiedliche ästhetische Handlungs- und Denkformen:
Wodurch zeichnen sich ästhetische Handlungs- und Denkformen aus, die die frühkindlichen Bildungsprozesse bestimmen? Ästhetische Handlungs- und Denkformen basieren auf dem eigenständigen Entwicklungs- und Lernwillen des Kindes. Sie können zwar angeregt werden, sind jedoch nicht unbedingt steuerbar. In der komplexen Eigendynamik ästhetischer Bildungsprozesse spielen besonders folgende Faktoren eine bedeutsame Rolle:
- die Wahrnehmung als komplexer innerer Verarbeitungsprozess, an dem die Sinnesorgane, der Körper, die Gefühle und die Erinnerung beteiligt sind. Etwas wahrzunehmen bedeutet, sich der Wirklichkeit zuzuwenden und eine innere Vorstellung von dieser Wirklichkeit zu entwickeln. Zugleich ist das Kind auf äußere Anregung angewiesen, um seine Wahrnehmung immer weiter entfalten und verfeinern zu können. Die Wahrnehmung ist ein selektiver, interpretativer Vorgang, der dann zur ästhetischen Wahrnehmung wird, wenn er nicht alltagspraktisch funktional eingesetzt wird, sondern die Sinne zweckfrei und imaginativ für ästhetische Momente schärft. Diese ästhetische Aufmerksamkeit verfolgt keine Intention, sondern zielt auf besondere Gestaltungsformen, ästhetischen Genuss, Kontemplation usw.: begreifen, ertasten, riechen, spüren, beobachten, betrachten, schauen, fixieren, taxieren, staunen, stutzen, gewahr werden, erkennen, empfinden, sinnlich wahrnehmen, emotional wahrnehmen, fühlen, bemerken, entdecken, hören …
- das Hantieren, Erkunden, Begreifen: Gemeint ist ein vorgestalterisches Hantieren mit Materialien und Alltagsdingen, ein handelndes Erkunden und im Wortsinn ein Begreifen, das nicht auf ein Resultat wie z.B. ein bildnerisches Produkt aus ist. Dieses ästhetische Handlungsfeld ist einerseits „mehr“ als ästhetische Wahrnehmung, andererseits aber „noch“ keine Gestaltung oder Herstellung eines Ergebnisses. Gemeint ist jene ausgiebige, aufmerksame und intensive Hinwendung zu einem ästhetischen Phänomen, die auf die handelnde Auslotung seiner Möglichkeitsaspekte zielt. Das explorative Erkunden der Umwelt auf ästhetische Weise steht hierbei im Vordergrund: tasten, drücken, reiben, kneten, rollen, setzen, stellen, sortieren, stapeln, reihen, stecken, drehen und wenden, kombinieren, häufen, schichten, bewegen, belasten, balancieren, auseinander nehmen, schütteln, zerstören, zerlegen, schwenken, zerkrümeln, zerreißen, experimentieren …
- das sich Mitteilen und aufeinander Eingehen: Kinder drücken sich mit dem Körper aus, mit Schrift und Sprache, mit Stift und Pinsel, sie bauen, sammeln, ordnen usw. Sie teilen sich mit und im Austausch mit anderen erfahren sie mehr über sich selbst, die anderen und schließlich auch über das Bild oder den Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit. Kurz: sie kommunizieren im ästhetischen Prozess über ihre ästhetischen Wahrnehmungen und Erfahrungen, über Bilder, ästhetische Erkenntnisse und Phänomene wie auch über ihre gestalteten Ergebnisse und Produkte. Ästhetische Handlungs- und Denkformen zeigen sich im Sprechen, sich etwas Zeigen, Zuhören, sich Verständigen, sich etwas Vormachen oder im Nachmachen und nachahmen, im Erkennen und Aushalten neuer Sichtweisen, im sich hinein Versetzen in andere Denkweisen, im Artikulieren von Gedanken über etwas …
- das Erzeugen und Herstellen, das Formen und Gestalten. Anders als beim explorierenden Hantieren wird in Prozessen des Erzeugens, Herstellens, Formens und Gestaltens etwas hervorgebracht. Wesentlich sind dabei Momente des bildnerischen und Gestalt gebenden Tuns, des konkreten Herstellens von etwas und des Erzeugens von etwas Eigenem, das es zuvor nicht gab. Das Herstellen eines Produkts erzeugt Kompetenzgefühle und steigert das Selbstwertgefühl der Kinder, weil sie etwas für sie Bedeutsames hervorgebracht haben. So entwickeln sich ästhetische Weltzugänge, wenn Kinder sammeln und ordnen, präsentieren und ausstellen, finden und erfinden, farbig und grafisch gestalten, plastizieren, bauen, konstruieren, zeichnen, collagieren, montieren, spielen und inszenieren, malen, fotografieren und videografieren, mit Sprache, Schrift, Zeichen gestalten, verformen, darstellen …
- das Fantasieren und Imaginieren. Jeder Ausdruck basiert auf inneren Vorstellungen, die als interne Repräsentationen des Welterlebens bezeichnet werden. Diese Vorstellungen bedürfen aktiver Entwicklung, wozu Imaginationskraft und Fantasietätigkeit beitragen. Fantasien und Imaginationen können durch Geschichten, Bilder, Musik usw. angeregt werden. Die internen Vorstellungen werden vom Kind nicht einfach z.B. in eine Zeichnung oder einen Rhythmus übertragen, sondern es findet ein komplexer Verarbeitungsprozess statt, der die bildnerische oder szenische Äußerung emotional und gedanklich prägt. Das heißt, im ästhetischen Prozess erfahren die internen Vorstellungen eine Umformung oder Interpretation. Die inneren Bilder – wie sie etwa auch im Spiel zum Ausdruck kommen – sind zum einen Voraussetzung für das innere Vergegenwärtigen von Wirklichkeit, zum anderen für die Entwicklung eines „Möglichkeitssinnes“, der Handlungsoptionen, Hoffnungen, Visionen, Träume und Wünsche hervorbringt, wenn wir mit Kindern assoziieren, erinnern, Beziehungen bilden, finden und erfinden, uns etwas vorstellen und ausmalen, umgestalten, verändern, ausdeuten, umdeuten …
- der Umgang mit Bildern. Bilder von Alltags- und Naturphänomenen, Kunstwerken, Kinderzeichnungen, gestalteter Umwelt usw. zeigen Phänomene unserer Wirklichkeit und sind häufig Gegenstand der Beschäftigung von Kindern. Diese Bilder bieten Assoziationspotenziale und können Orientierung, Anregung und Unterstützung im eigenen Erkunden und Behandeln von etwas sein. Der direkte Umgang mit Kunst oder Natur, mit Alltagsdingen oder selbst Gestaltetem kann durch die mediale Darstellung weitergeführt werden. Wichtig ist, Bilder gemeinsam wahrzunehmen und zu betrachten, zu erkunden, zusammenzustellen, zu vergleichen, nachzugestalten, nachzustellen, nachzuspielen, über Bilder nachzudenken und sich auszutauschen …
In allen beschriebenen ästhetischen Zugangsweisen verbinden, bedingen und unterstützen sich Wahrnehmen, Denken und Handeln. Neben ästhetischen und bildnerischen Erfahrungen können Kinder dabei eine besonders nachdrückliche Form des Reflektierens entwickeln: ein Nachgehen, Nachgrübeln, Sinnsuchen, das sie intensiv und anhaltend beschäftigt. Dieses Reflektieren zeigt sich dann, wenn die ästhetische Erfahrung das Kind gefangen nimmt und seine Aufmerksamkeit nachhaltig bindet und drückt sich im Nachdenken, Fragen stellen, Einordnen, Vergleichen, Zusammenhänge bilden, Einschätzen, Hinterfragen, Nachvollziehen, Sinn finden, überlegen usw. aus.
Ein Beispiel
Am Umgang mit einer Mandarine sollen die Eigendynamik und Komplexität ästhetischer Bildungsprozesse exemplarisch verdeutlicht werden und die sechs genannten tragenden Faktoren gefüllt werden:
Wahrnehmen
- Schale mit Lupe betrachten
- Unterseite und Oberseite der Schale betrachten und Zweifarbigkeit bestaunen
- Schale bei verschiedenen Lichtverhältnissen betrachten
- Häute und Fädchen entdecken, ertasten, betrachten
- Oberfläche betrachten und ertasten: glatt, stumpf, kühl, weich, gepolstert, wachsig, glänzend
Hantieren, Erkunden, Begreifen
- Schale platt drücken, krümeln, zerreißen, reiben, pressen, zerknüllen, pellen
- Löcher in Schale hinein stechen
- Verpacken und Entpacken
- Schneiden
- Schalen durchleuchten (an Glasscheibe halten, auf OHP legen u.a.)
- Schälen: in Teilen, in Streifen u.a., mit den Fingern, mit Werkzeugen u.a.
- Schalen verpacken, verschnüren, verknoten, verkleben
Sich mitteilen und aufeinander eingehen
- Beobachtungen mitteilen und austauschen:
- Meine Mandarine hat viele Kerne – meine nicht …
- Die Mandarine ist viel orangener als die Orangen …
- Wie schälst du denn die Mandarine? – Das mach ich immer so. – Aber das geht doch ganz anders …
- Wie viele Schnitze hat deine Mandarine?
- Kannst du mir mal helfen, die festzuhalten bis ich die anderen draufgelegt habe …
- Wie malt man eine Mandarine? – Ich mach einfach einen orangenen Kreis! – Aber Mandarinen sind eigentlich gar nicht rund …
Erzeugen, Herstellen und Gestalten
- Schale (außen und innen) zeichnen
- Mit Schalen drucken
- Schalen als Malwerkzeuge verwenden und damit schmieren, tupfen, wischen, tröpfeln u.a.
- Orangetöne (außen) und Weißtöne (innen) mischen
- Schalenstücke (pressen), aufkleben, deuten und weiterzeichnen
- Schalen als Schattenfiguren benutzen
- Schalenketten anfertigen
- Schalensammlung anlegen
- Schalen nachbilden (mit Ton, Folie, Knete, Papier u.a.)
Fantasieren und Imaginieren
- Personifizierung: (können Schalen) sich in der Sonne verbrennen, Blasen bekommen, Pickel und Narben bekommen …
- Synonyme: Hülle, Haut, Pelle, Mantel, Verpackung, Schutz, Leder, Gänsehaut,
- Formassoziationen; woran erinnert die Schalenform – Formen hineindeuten, Oberfläche ausdeuten
- Schalenähnliches: Kleidung (Overall), Bonbonpapier, Schlangenhaut, Schüssel, Verpackung, Schote, Fass u.a.)
- Schalenstreifen werfen und ausdeuten
- Schalengeschichten erfinden