Gestaltungsprozesse

Ästhetische Handlungs- und Denkformen können in Gestaltungsprozesse münden. Dies setzt voraus, dass die nicht lineare Bewegung im Dialog mit einem spezifischen Material fokussiert und verdichtet wird sowie sukzessive Gestalt annimmt. Was heißt das konkret? Analog zum Tanz, der eine Form, einen Rhythmus erhält, der von bestimmten Bewegungen geprägt ist, die sich wiederholen, Spannung auf- und abbauen und sich im Prozess verändert, bekommt eine Zeichnung oder ein Material eine bestimmte Gestalt, die ebenso von Rhythmus, Bewegung, Spannung usw. geprägt sein kann.

Mit Stift und Papier kann ein Erlebnis mit bildnerischen Mitteln arrangiert, geordnet, ausgelegt, verändert wiedergegeben werden. Die emotionale Beteiligung drückt sich in den gewählten Proportionen und Farben aus, in der Dynamik der Komposition, dem zeichnerischen Duktus, in der Variation des Gezeichneten usw. Eine Stimmung oder Atmosphäre kann sich im rhythmischen Trommeln ebenso verdichten wie im Gedicht oder im Umgang mit plastischer Masse. Diese wenigen Beispiele sollen andeuten, dass es ein weiterer wesentlicher Schritt im ästhetischen Bildungsprozess ist, inneren Bildern, Gefühlen, Stimmungen, Erlebnissen usw. Gestalt zu verleihen – bildnerisch verdichtet etwas darzustellen, auszudrücken, über etwas zu kommunizieren. In diesem Prozess zeigen sich Kinder häufig versunken, hoch konzentriert, ergriffen und von Glück erfüllt.

Wie kommt es zu dieser Versenkung, zu gespannter Aufmerksamkeit, Konzentration, hoher emotionaler Beteiligung und Kontemplation? Die spielerisch-fließende Bewegung der ästhetischen Handlungs- und Denkformen geht in einen gestalterischen Dialog mit Papier und Pinsel, Schrift und Sprache, Knetmasse oder Holz, dem Körper oder Musiktönen usw. über, bei dem die ganze Person einbezogen ist. In diesem Übertragungsprozess innerer Gedanken, Vorstellungen, Erfahrungen, Fantasien, Assoziationen, Ideen, Emotionen etc. wird Erlebtes bildnerisch strukturiert und dadurch verlangsamt und intensiviert verarbeitet.

Zugleich entsteht Neues, das betrachtet, anders wahrgenommen und neu organisiert wird. Etwas wird plötzlich als „schön“ wahrgenommen und mit Genuss und Staunen bewundert, es fasziniert das Kind und wird mit viel Zeit betrachtet. Eine gestaltete Form – eine Zeichnung, ein Foto, ein Baumhaus usw. – zu entwickeln, geschieht in einem Prozess, in dem eine Form gesucht wird, die angenommen oder verworfen wird, die einen Neubeginn fordert und die am Ende in verdichteter Weise Erfahrenes ausdrückt. Es ist ein Prozess, in dem man sich entscheiden muss, jedoch auch umstrukturieren kann, Dinge ins Verhältnis setzen muss, variieren, wiederholen, anordnen, absetzen kann.

In der Regel ist dieser Gestaltungsprozess außerordentlich lustvoll, aber es gehört auch Durchhaltevermögen dazu, eine Gestaltungsidee zu vollenden. Alternativen zu entwerfen, Lösungsvarianten zu verwerfen, sinnvolle Verfahren anzuwenden, andere Ideen fortzusetzen usw. bestimmen den Gestaltungsprozess ebenso wie das Wiederholen und Überprüfen bildnerischer Lösungen – sowohl diskursiv und kausal wie auch präsentativ und kursorisch. Glücksmomente stellen sich ein, wenn das gestaltende Hervorbringen zu gelingen scheint und bildnerische Lösungen für bestimmte Vorstellungen flexibel und originell gefunden werden.

Glücksmomente stellen sich auch im Rezeptionsprozess ein – wenn Kinder beim Betrachten von Naturerscheinungen oder von Kunstwerken, beim Hören von Musik und beim Erleben von etwas besonders Gestaltetem fasziniert und ergriffen sind. Sie bemühen sich um die Konstruktion von Sinnzusammenhängen, sie entdecken verschiedene Sinnschichten spielerisch und doch zugleich voller Ernsthaftigkeit. Genuss und Lustgewinn entstehen in diesem aktiven Erschließen von Sinn, gepaart mit der Kommunikation über die verschiedenen Meinungen zu dem Gesehenen. Mit den vielfältigen Sinnperspektiven entwickeln sich zahlreiche Möglichkeiten, Dinge anders zu denken, Bekanntes aus neuen Blickwinkeln zu sehen, Fremdes mit Vertrautem zu verbinden und sich ein Spektrum verschiedener Sichtweisen anzueignen.

Der Möglichkeitssinn entwickelt sich sowohl im Rezeptions- als auch im Produktionsprozess: Im Gestalteten lassen sich Vorstellungen, Wünsche, Träume und Fantasien realisieren, die es in der Wirklichkeit nicht geben kann. Das produktive Entwerfen von vielerlei Denk- und Handlungsoptionen unterstützt die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes, das hierdurch flexibel seine Wirklichkeit gestalten kann. Die dem Kind ohnehin eigene experimentelle Grundhaltung wird durch die utopische Funktion ästhetischer Bildungsprozesse gestärkt und gefördert, was zur Entwicklung des Möglichkeitssinns beiträgt.

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Bisher wurde dargelegt, wie ästhetische Handlungs- und Denkformen in Gestaltungsprozesse münden können. Aber wie kommt es speziell im visuell-bildnerischen Bereich dazu, dass sich die ästhetischen Handlungs- und Denkformen in Gestaltungsprozessen verdichten? Wodurch genau findet ein Verdichten statt? Etwas zu verdichten bedeutet, dass ein Motiv bildnerisch kompakt strukturiert, spannungsvoll komponiert und dadurch bewusst intensiviert zum Ausdruck gebracht oder visuell in seiner Vielschichtigkeit erfasst wird. In diesem Prozess zeigt sich die visuelle Bildlesekompetenz ebenso wie die bildnerische Gestaltungskompetenz. Diese bildnerischen Kompetenzen lassen sich durch folgende Aktivitäten mit Kindern anregen und fördern:

Visuelle Wahrnehmungsaktivitäten und -erfahrungen in ästhetischen Prozessen:

  • Schauen, betrachten, visuell erkunden (z.B. Materialien, technische Verfahren, motivische Details usw.)
  • zwischen der Betrachtung von Details und der Betrachtung des Ganzen wechseln
  • Formale und inhaltliche Beziehungen zwischen Einzelheiten und Gesamtem entdecken
  • Form- und Farbbeziehungen zwischen verschiedenen Bildelementen entdecken (z.B. Größenverhältnisse, Kontraste, Strukturen usw.)
  • Beim Betrachten umstrukturieren – unterschiedliche Beziehungs- und Ordnungsmöglichkeiten entdecken
  • zwischen der Betrachtung von Formen und Farben und dem Entdecken von Deutungsmöglichkeiten wechseln
  • unterschiedliche Lesarten und Deutungsmöglichkeiten von Bildern entdecken
  • untersuchen, reflektieren und herausfinden, wodurch ein Bild eine bestimmte Lesart angestoßen hat
  • Wirkungen am Bildbestand belegen und andere Meinungen aufnehmen/


Bildnerisch-ästhetische Aktivitäten und Prozesserfahrungen:

  • Gestaltungsmittel kennenlernen, Kompositionsprinzipien erlernen
  • Im Bildprozess Zusammenhänge erzeugen, erproben, entdecken, variieren und verändern
    • zwischen verschiedenen Einzelformen
    • zwischen Formen und Farben
    • zwischen Einzelteilen und Ganzem
    • zwischen Bildzeichen und möglichen Lesarten
    • zwischen Gestaltungsmitteln und Wirkungen
  • etwas mit bildsprachlichen Mitteln ausdrücken, visualisieren, formulieren und kommunizieren
  • Für Vorstellungen, Gedanken, Gefühle und Erfahrungen Bildzeichen und Bildordnungen finden
  • Im Bildfindungsprozess eigene Vorstellungen klären
  • Im bildnerischen Umgang mit Materialien und Formen neue Gestaltungs-, Wirkungs- und Ausdrucksmöglichkeiten erproben und entdecken
  • Im Bildprozess eigene Bildlösungen, Darstellungs- und Ausdrucksmöglichkeiten (er)finden

 

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