Anlassorientierung bedeutet im Unterricht, nicht nur einen bestimmten Plan zu verfolgen, sondern auch konkrete Situationen, die Kinder bildnerisch interessieren, zum Ausgang für Unterricht zu nehmen. Hierzu ein Beispiel: Im Klassenzimmer werfen von der Decke abgehängte Lampen einen Schatten auf die Wand. Erkan entdeckt es zuerst: „Hej, da oben fahren Tanker.“ In den Konturen der Schatten sieht der Junge die Umrisse von großen Schiffen. In der Kunststunde baut Erkan einen Tanker, der seine Schwimmtauglichkeit im improvisierten Becken beweisen muss. Die selbst initiierte ästhetische Praxis des Zeichnens, des Spielens, des Fotografierens und des Bauen und Konstruierens entwickelt sich spontan: Erkan sieht eine grafische Analogie in den Umrissen eines Schattens.
Worauf basiert die Entdeckung solcher Anlässe?
Betrachtet man Erkans Interpretation des Schattenbildes, fällt auf, dass selbst in einer Klasse mit über 20 Kindern nur ein Kind diese Analogie entdeckt. Anlässe basieren auf der individuellen Wahrnehmung des Einzelnen. Sie können jedoch auch ansteckend sein, etwa indem andere Kinder, die darauf aufmerksam gemacht werden, die Idee nachvollziehen.
Anlässe entspringen einem spielerischen Umgang mit der Umwelt. Offene und neugierige Kinder beschreiten mit Objekten einen Weg, der sie über das Ausprobieren, das Spielen zu neuen Interpretationen von Welt führt. Über den Anlass setzt das Kind seine Entdeckungen in Bezug zur Umwelt, zu Erlebtem, zu Wissen, zu Ideen, zu Träumen oder Gesehenem. In diesen Situationen bedarf es einer aufmerksamen und aktiv wahrnehmenden Lehrperson, denn ohne die Aufmerksamkeit bleiben mögliche Anlässe der Kinder unbemerkt.
Gängige Unterrichtseröffnungen richten sich gemeinhin an die ganze Klasse, nur selten werden individuell zugeschnittene Wege in ein neues Thema oder eine neue Technik gewählt. Ein Impuls für die ganze Klasse funktioniert in den seltensten Fällen bei allen Kindern gleich gut, da nicht von gleichen Interessen bei allen Kindern ausgegangen werden kann. Jedoch motiviert ein Anlass als Startimpuls für eine ästhetische Praxis die Kinder häufig sehr stark. Allerdings ist es überaus schwierig bis unmöglich, Anlässe in ihrer Entstehung zu begleiten oder gar zu steuern, da die Lehrperson ihre Aufmerksamkeit nicht auf alle Kinder gleichzeitig richten kann.
Beispielsweise kann ein unbekanntes Wort in einem Lesetext zum Anlass im Kunstunterricht werden. Doch bleibt es ein nahezu unerreichbares Ideal, dass jedes Kind einer Klasse auf Basis seines persönlichen Anlasses zu einer individuellen gestalterischen Praxiskommt. Denn wie kann eine einzelne Lehrkraft sämtliche Prozesse begleiten, den Materialfundus immer aktuell halten, zeitliche Freiräume in ausreichendem Maß schaffen. Will man aber eine anlassbezogene ästhetische Praxis in den Unterricht implementieren, ist es nötig, Kompromisse zu machen. Sich auf ein derartiges Konzept einzulassen, bedeutet, sich auf den Weg zu machen, Kindern eigenständiges Entwickeln von Ideen und künstlerisch-praktisches Arbeiten zuzutrauen.