Handlungsfelder und bildnerische Prozesse

Es gehört zur Grundstruktur des Menschen, sich reflexiv, rezeptiv und praktisch handelnd mit seiner Welt auseinanderzusetzen. Dies auf ästhetische und künstlerische Weise zu tun, ist eine spezifische und besondere Form, der Welt zu begegnen, sich ein Bild von ihr zu machen und im bildnerischen Gestalten einen Sinn zu sehen. Nachdenken, Sich-Einfühlen, Erinnern, Vorstellen, Ausprobieren, Sichtbar-Machen, Darstellen, Gestalten u.a. sind Fassetten des komplexen Zusammenspiels von Denken und Handeln. Egal ob ein Kind zeichnet, plastiziert oder ausgeschnittene Papierteile zu einer Collage zusammenfügt, es ist immer ein intensiver Prozess, der das Kind denkend wie handelnd gleichermaßen herausfordert. Deshalb greift es zu kurz, von bildnerischen Techniken (Linoldruck, Monotypie, Fotogramm) oder künstlerischen Strategien (Mapping, Archivieren, Collaborieren) zu sprechen, weil diese nur Mittel zu kulturellen Ausdifferenzierungen dieses grundsätzlichen Weltverhältnisses sind.

Mit ästhetisch sind jene Denk- und Handlungsformen gemeint, die auf der Grundlage sinnlicher Erfahrung und Erkenntnis dazu beitragen, die Welt im wörtlichen Sinne zu begreifen, zu erfassen, zu berühren, zu verändern und etwas bewusst hervorzubringen. Künstlerisch, häufig auch bildnerisch oder gestalterisch genannt, hingegen sind Denk- und Handlungsformen, die sich bestimmter kultureller Formate bedienen, wie Malen, Drucken, Fotografieren. Künstlerische Denk- und Handlungsformen haben immer ästhetische Anteile, wie ästhetische Denk- und Handlungsformen sich durchaus künstlerischer Herangehensweisen bedienen können. Wenngleich beide Bereiche nicht ineinander aufgehen, so haben sie doch ein breites Überschneidungsfeld.

Es ist das Ziel des Kunstunterrichts, vom ersten Schultag an, das ganze Spektrum ästhetischer und künstlerischer Denk- und Handlungsformen zu öffnen und zu fördern. Dabei gilt es, die Interessen und Bedürfnisse von Kindern ernst zu nehmen und aufzugreifen, sie in ihren bildnerischen Prozessen bzw. in ihren individuellen „Choreografien“ angemessen und sachkompetent zu begleiten und Kunstunterricht als „Möglichkeitsraum“ zu verstehen. Das Spektrum der Denk- und Handlungsformen im Kunstunterricht ermöglicht sowohl Fokussierungen auf ein bestimmtes Material oder eine bestimmte Verfahrensweise (z.B. eine Figur aus Pappmaché bauen) als auch die Verknüpfung verschiedener Materialien, Herangehensweisen oder Techniken (z.B. eine Illustration zum Thema „Mischwesen“ kann als Druckgrafik, als Zeichnung, als Collage, als Schrift-Bild u.a. angelegt werden).

Für Kinder ist jede Erfahrung, die sie mit einem Material, in einem Gestaltungsprozess und im Austausch mit anderen darüber gewinnen, ein Lernzuwachs. Sie üben sich im Problemlösen, im Entwickeln neuer Ideen und im Erproben unkonventioneller Herangehensweisen. Viele Aspekte der Kreativität, wie Neugierde, Experimentierfreude, Einfallsreichtum, Intuition, Selbstvergessenheit im Tun und Flexibilität im Denken können dabei zum Tragen kommen. Kinder sind herausgefordert, Widerstände und Grenzen zu erfahren und ihnen mit bildnerisch-ästhetischen Mitteln zu begegnen. Kindliche Vorstellungen von Handlungsweisen, von Kombinationsmöglichkeiten, von ungewöhnlichen Lösungswegen sind häufig nicht so strikt festgelegt wie bei Erwachsenen. Daneben gehören Anstrengungsbereitschaft und das Aushalten von Differenzen, vertieftes Wahrnehmen sowie Offenheit für neue Darstellungs- und Ausdrucksoptionen zu den kreativen Qualitäten, die sich gerade bei Kindern beobachten lassen. Dafür benötigen Kinder ausreichend Zeit, denn bildnerische Ideen müssen entwickelt und erprobt werden, auch Scheitern sollte erlaubt sein. Diese besonderen Prozesse der Weltaneignung binden die Aufmerksamkeit und die Konzentration in hohem Maße und ermöglichen Kindern das Gefühl von Selbstvergessenheit und Zeitlosigkeit.

Denk- und Handlungsformen im Kunstunterricht integrieren drei zentrale Elemente: Wahrnehmen – Vorstellen – Darstellen. Sie sind mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung am Prozess beteiligt. Im Unterrichtsverlauf können je nach Anlass, Lernarrangement und Intention bestimmte Schwerpunkte betont werden.

 

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