Selbst-und Weltzugang

Der kindliche Selbst-und Weltzugang ist in erster Linie ein ästhetischer. Ästhetische Wahrnehmungsweisen und Ausdrucksformen von Kindern sind differenzierte, komplexe und dialogische Prozesse der Beschäftigung und des Austauschs mit sich selbst und der Welt. Es geht in diesen Prozessen um Begegnung und Resonanz, um Beobachten und Deuten, um Erproben, Handeln, Staunen und Verstehen. Beobachtet man Kinder in ihrer neugierigen, experimentierfreudigen und unkonventionellen Zuwendung zur Welt, wird offensichtlich, dass Kinder von Geburt  an die Herausforderung Leben aktiv annehmen: Kinder sind Akteure ihrer individuellen Entwicklung, die innerhalb sozialer und kultureller Kontexte voranschreitet. Kinder haben ein weit aufgefächertes, vielperspektivisches Spektrum an Zugängen zur Welt, in dem sich Präferenzen erst nach und nach herausbilden und festigen. Darin liegen die Chancen für eine umfassende, ganzheitliche ästhetische Bildung.mÄsthetische Bildung entsteht im Wechselspiel von Rezeption und Produktion in den Bereichen Musik, Tanz, Bildende Kunst, Literatur, Poesie, Theater usw.

Im Rezeptionsprozess – z. B. Lesen von Geschichten oder beim Betrachten von Gemälden – wird das Kind dazu angeregt, aktiv und eigenständig Sinn zu erschließen. Das heißt, es muss sich auseinandersetzen – sowohl mit dem Anderen, Fremden, repräsentiert im Gedicht oder im Kunstwerk, wie auch mit sich selbst – um das Erfahrene einzuordnen, zu strukturieren usw.  Es gestaltet das Werk aktiv mit – denn diese Eigenschaft haben ästhetische Phänomene in besonderer Weise: sie lassen dem Kind die Möglichkeit, sich selbst in das Werk mit allen Empfindungen und Gedanken einzubringen sowie eigene Vorstellungen dazu zu entwickeln. Im Rezeptionsprozess werden die aktive Sinnerschließung, das Bilden von Analogien und Bezügen, Mut zum Umdenken, Durchdringung in der Reflexion usw. verlangt.

Im Produktionsprozess zeigt sich die aktive Gestaltung von Wirklichkeit offensichtlicher: Das Musizieren, Tanzen, Gedichte verfassen, Zeichnen, Malen, Bauen oder Konstruieren erfordert das Aktivieren innerer Vorstellungen, innerer Klänge, innerer Dialoge, innerer Bilder, Fantasien und Träume. Es wird etwas hervorgebracht – und zwar etwas, das auf ästhetische Weise gestaltet ist. Mit dieser Hervorbringung verbinden sich mehrere Aspekte: Einerseits entstehen Kompetenzgefühle, wenn das Kind etwas erschafft, wenn das Werk vollbracht ist und dem Kind gegenübersteht. Mit den Kompetenzgefühlen wächst das Selbstwertgefühl, die Ich-Stärke. Andererseits wird etwas von dem Kind hervorgebracht – ein Motiv, das es beschäftigt, ein Gefühl, eine Leidenschaft, ein Interesse, vielleicht auch eine Angst oder eine Befürchtung. Insbesondere das ästhetisch-praktische Tun stellt eine Brücke zwischen dem Innen – der inneren Vorstellungs-, Fantasie- und Traumwelt – und dem Außen – also eine Brücke zur äußeren Wirklichkeit her.

In diesem Prozess, etwas von Innen nach außen zu bringen und ihm in ästhetischer Form Gestalt zu verleihen, wird geordnet, strukturiert und gegliedert, um zu einer Form zu finden. Und innerhalb dieses Formfindungsprozesses kann das Erlebte langsam und gründlich verarbeitet werden – in der Auseinandersetzung mit dem Selbst und dem Anderen. Diese Leistung, eine Vorstellung wie auch immer geordnet – mit Begriffen oder zeichnerisch – auf das Papier zu bringen, zu modellieren oder körperlich darzustellen, ist ein vielschichtiger kreativer Prozess, der das Verhältnis zur Welt ein Stück weit zu klären vermag.

Dies ist der Kern ästhetischer Bildung: Im Produktions- wie im Rezeptionsprozess lassen sich Versunkenheit und Konzentration beobachten, weil der ganze Mensch einbezogen ist und die volle Aufmerksamkeit im ästhetischen Tun gebunden ist. Hinzu kommt, dass durch den produktiven Umgang mit verschiedenen Materialien die emotionalen und die sinnlichen  Entwicklungsgrundlagen, die zum Aufbau kognitiver Kompetenzen Voraussetzung sind, ebenso gefördert werden wie im Rezeptionsprozess das konvergente und divergente Denken durch das Konstruieren von Sinn gefördert werden.